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NEWSLETTER 14.12. 2023

Der Einfluss der Gemeinschaft aufs Fleischessen

Der Einfluss der Gemeinschaft aufs Fleischessen

Weihnachten naht und emotionsvolles, ausgeklügeltes Marketing läutet den jährlichen Einkaufsrausch ein. Auch die Planung rund um weihnachtliche Festessen mit Familie und Freunden steht an. Traditionelles Schüfeli, Fondue Chinoise oder doch Filet im Teig? Zur Vorspeise Lachs, oder geräucherte Forelle?

Vision Landwirtschaft möchte auf Ende des Jahres nochmals zum Nachdenken anregen. Und zwar wenden wir uns ein weiteres Mal dem Fleischkonsum zu. Der Weihnachtsschmaus ist ein wunderbares Beispiel, wie Essen eng mit unserer Kultur verwoben ist und die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Hier sind individuelle Verhaltensveränderungen besonders schwierig, da Essverhalten eingebettet ist in gemeinschaftliche Faktoren, wie Erwartungen, Anstand und Verpflichtungen. Die Reduktion des individuellen Fleischkonsums ist jedoch nötig, um die Klimaziele zu erreichen. Der folgende Newsletter nähert sich dem Thema ein weiteres Mal sozialtheoretisch und zeigt die Bedeutung des Fleischkonsums auf gemeinschaftlicher Ebene auf.


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Fleisch als Nahrungsmittel der Feste und Objekt subjektiver Emotionen

(VL) Dem Nahrungsmittel Fleisch kommt eine bedeutende Rolle zu: Fleisch, so argumentiert die polnisch-kanadische Journalistin Marta Zaraska, ist das Nahrungsmittel der Feste. Es hat einen besonderen Stellenwert und wird an praktisch jedem festlichen Anlass serviert. Die Beispiele fürs Weihnachtsmenu, aber auch der Cervelat zum Nationalfeiertag und die St. Galler Bratwurst an der Olma zeigen die gemeinschaftliche Bedeutung von Fleisch auf. Durch die enge Verbindung von Fleischessen und Feierlichkeiten wird Fleisch für die damit verbundenen Erfahrungen der vergnüglichen Anlässe und den Gefühlen der Zugehörigkeit zum Objekt subjektiver Emotionen. Das heisst also, Fleisch übernimmt als Nahrungsmittel weitere Eigenschaften, als uns zu ernähren. Als Nahrungsmittel der Feste zeigt Fleisch traditionellerweise auf, dass wenigstens am Fest genügend Essen serviert werden kann. Zudem soll er uns, überspritzt formuliert, zusammenbringen, glücklich und zufrieden machen.

Kulturelle Verbundenheit mit Fleisch

Der französische Soziologe Claude Fischler beschreibt die Vielfalt der menschlichen Ernährung: Durch die omnivore (sowohl pflanzliche wie tierische Produkte) Ernährungsweise sind Menschen besonders anpassungsfähig an die Bedingungen ihrer Umwelt. Dies führte weltweit zur Ausprägung unterschiedlicher Ernährungsweisen. Als Beispiel dieser grossen Vielfalt dient die Ernährung der in der Arktis lebenden Inuit, die sich hauptsächlich vom Fleisch gejagter Tiere und deren Fetten ernähren, während die Ernährung eines südostasiatischen Kleinbauers kaum tierisches Protein enthält.

Neben geografischen Bedingungen sind Ernährungsweisen eng mit der ethnischen Identität verbunden; sie sind das Letzte, was Migrierende nach einer Immigration aufgeben. Pizzerien, Asia-Shops, Döner Imbissbuden oder äthiopische Restaurants zeugen vom Wunsch, die kulturell geprägten Essgewohnheiten des Herkunftslandes weiterzuleben.

Der Forschungsbericht des Archiv für Agrargeschichte: «Geschichte des Fleisches und des Fleischkonsums in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert», zeigt am Beispiel von Fleisch auf, wie sich Essgewohnheiten schnell verändern: In der Rezession ab dem Jahr 1934 und durch die Fleisch Rationierung während des 2. Weltkriegs kommt es zu einer kurzzeitigen Reduktion des Fleischkonsums, wobei ab 1950 mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Bedeutung von Fleisch als Statussymbol der Pro-Kopf Fleischkonsums stark ansteigt. Es setzt eine Verlagerung der Konsumgewohnheiten von Rind- und Schweinefleisch zu Geflügelfleisch ein: Poulet gilt als gesund und fettarm und ist dank Import stets verfügbar. So beginnt auch in den 1960er-Jahren in der Schweiz der Aufbau der Poulet Massenproduktion nach amerikanischem Vorbild. Obwohl bereits in den 1940er-Jahren behördlicherseits festgestellt wurde, dass in der Schweiz zu viel Fleisch konsumiert wird, ebnete die Politik der Agrarwirtschaft diese neuen Produktionsform, die auf fossile Brennstoffe und Futtermittelimporte angewiesen ist. Die Wissenschaft bleibt zu den ökologischen und ethischen Folgen dieses Produktionssystems weitgehend stumm.

Trotz der heute wahrgenommenen Bedenken rund ums Fleischessen stabilisiert sich der Konsum seit 1990 auf hohem Niveau und der Konsum von Geflügel steigt weiterhin an. Anstelle des Rituals des «Weihnachtsbratens» ist Fleisch heute immer und überall zugänglich. Zudem wird der Fleischkonsum durch regelmässige Aktionen angekurbelt und die Kundschaft regelrecht darauf konditioniert, dass Fleisch billig und jederzeit verfügbar sein soll. 

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Die schnellen Veränderungen der Nahrungskultur in den letzten siebzig Jahren zeigen jedoch, dass Essverhalten änderbar ist und so schweizerische Essgewohnheiten entstehen könnten, die für unseren Planeten tragbar sind. Vielleicht mit etwas zukunftsfähigem gesellschaftlichem Mut, ausgeklügeltem Marketing und der Unterstützung aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.

Soziale Identität und die Norm, Fleisch zu essen

Um die gemeinschaftliche Bedeutung des Fleischessens noch besser zu verstehen, möchten wir den Begriff der sozialen Identität einführen. Die soziale Identität liefert hier eine theoretische Erklärung, wie Menschen aus ihren Gruppenmitgliedschaften Selbstkenntnis und Sinn ableiten. Soziale Identität bildet so den Teil des Selbstkonzepts, durch welchen sich die Person über die Mitgliedschaft in einer Gruppe definiert oder durch eine Nicht-Mitgliedschaft davon abgrenzt. Auch Essen kann ein Teil der sozialen Identität sein. Jonas Klaus, emerierte Professor für Sozialpsychologie der Universität Zürich, schreibt: «Welche seiner vielen Identitäten für ein Individuum zu einer gegebenen Zeit am salientesten [Red. hervorstechendsten] ist, wird vom sozialen Kontext und vom Ausmass abhängen, in dem eine Person die jeweilige Auffassung über sich selbst wertschätzt. (Jonas et al. 2014, S. 156).»

Was passiert also, wenn der soziale Kontext Fleischkonsum fordert?

Gehen wir nochmals zurück zum Weihnachtsbraten. Thomas plant das Festessen. Er erinnert sich an Omas Weihnachtsbraten, den er als kleines Kind mit Kartoffelgratin und Erbsli und Rüebli verschmaust hat und den er nun als erwachsener Mann für die Familie jedes Jahr im Gusseisentopf mit Rosmarin und Thymian schmort (Fleisch als Lebensmittel der Feste). Es ist klar, dass in der Familiengemeinschaft an Weihnachten Fleisch gegessen wird, und jedes Jahr bekommt er dafür Komplimente (Soziale Identität, Erwartungen). Am Fernsehen wird er ständig daran erinnert, dass «wir» in der Schweiz an Weihnachten Fleisch essen (ethnische Identität, Anstand). Gleichzeitig möchte Thomas seinen Beitrag zum Klimawandel leisten und ist mit der heutigen Tierhaltung nicht einverstanden. Was würde wohl seine Mutter sagen, wenn er dieses Jahr einen Linseneintopf auftischt (von Generation zu Generation weitergegeben, Verpflichtung)?

Der Weihnachtsbraten ist nur ein Beispiel. Andere Alltagssituationen wie, der nächtliche Döner im Ausgang mit den coolen Freunden, das «komische» Vegi-Menu in der Schulmensa oder das «Körnlipicken» der Arbeitskollegin können als Beispiel dienen, wie schwierig es ist, etwas «Anderes» zu wählen als das vermeintlich «Normale». So wird die Norm, Fleisch zu essen, weitergegeben und als psychologisches Hindernis wahrgenommen, weniger Fleisch zu essen. Sie kann auch ein möglicher Grund sein, warum Individuen nicht nach ihren eigentlichen Werten handeln.




Literaturverzeichnis

Auderset, Jury; Moser Peter (2023): Geschichte des Fleisches und des Fleischkonsums in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, AfA-Working Paper Nr. 08, Archiv für Agrargeschichte, Bern.

Fischler, Claude (1988): Food, self and identity. In: Social Science Information, S. 275–292.

Jonas, Klaus; Stroebe, Wolfgang; Hewstone, Miles (2014): Sozialpsychologie. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

Zaraska, Marta (2016): Meathooked. The history and science of our 2.5-million-year obsession with meat. New York: Basic Books a member of the Perseus Books Group. Online verfügbar unter http://www.meathookedthebook.com/