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10.9. 2023

Die gesellschaftliche Bedeutung des Fleischessens

Die gesellschaftliche Bedeutung des Fleischessens

Welche unbewussten Motive stecken hinter unserem Verhalten? Was treibt uns dazu, dass wir glauben, täglich Fleisch essen zu müssen? Helene Renaux, seit Mai diesen Jahres Mitglied des Vorstandes von Vision Landwirtschaft, ist in ihrer Masterarbeit diesen Fragen nachgegangen und zu erhellenden Schlüssen gekommen. Für diesen Newsletter hat sie sozialtheoretisch Literatur zusammengefasst, welche die Bedeutung des Fleischkonsums auf gesellschaftlicher Ebene aufzeigt. Das Fazit: Neue (Vor-­) Bilder braucht das Land und Entscheidungsträger:innen, die bereit sind, langjährige Förderpraktiken zu hinterfragen und zu ändern, wenn sie Mensch und Umwelt schaden. Bereits bahnen sich andere Lebensgewohnheiten an. Diese gilt es zu unterstützen. Einen Denkanstoss gibt uns der Text von Helene Renaux.

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(VL) Die letzte nationale Ernährungserhebung «menu CH» des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen stammt aus dem Jahr 2014/2015. Sie zeigt, dass die Schweizer Bevölkerung pro Woche durchschnittlich 780 Gramm Fleisch isst. Dies ist das Dreifache der empfohlenen Menge entsprechend der Schweizerischen Lebensmittelpyramide. Eine bedeutende Reduktion konnte in den letzten Jahren nicht aufgezeigt werden. Im Gegenteil: der Agrarbericht des BLWs schätzt im Jahr 2021 einen 1,8 prozentigen Anstieg des Pro-Kopf-Fleischkonsums. Die Zahlen und die aktuellen Debatten muten an, dass Fleischessen für die Schweiz bedeutend ist. Der folgende Text nähert sich dem Thema sozialtheoretisch an und zeigt die Bedeutung des Fleischkonsums auf gesellschaftlicher Ebene auf.

1. Normalität des Fleischessens

Fleisch wird seit tausenden von Jahren von Menschen konsumiert und in der Schweiz als Selbstverständnis wahrgenommen. Durch dieses Selbstverständnis wird Fleischessen unhinterfragt als etwas «Normales» betrachtet. Diese Normalität soll nachfolgend dekonstruiert werden:

Anstelle einer Instanz, die das Normale vorgibt, spricht Foucault von einer Normalisierungsmacht und geht davon aus, dass es meist keine Überwachung braucht, um Macht auf Individuen auszuüben. Die Vorstellung oder Angst vor einem gesellschaftlichen Ausschluss oder einer Strafe reichen, dass wir uns selber disziplinieren. Macht hat sich sozusagen verselbständigt und wird nicht top-down von einer Personengruppe bestimmt, sondern im alltäglichen Zusammenleben gelebt und teilweise auch ausgehandelt. Was normal ist, wird also durch Sozialisation im Gefüge der Gesellschaft festgelegt, deren Macht alle ausgeliefert sind (Dieterle 2015). Diskriminierung bezüglich sozialen Klassen, Ethnien oder Essvorlieben sind also soziale Konstrukte, die innerhalb familiärer Strukturen, in den Medien und durch verschiedene private oder öffentliche Institutionen wiederkehrend bekräftigt werden. Das heutige Verhalten des Menschen gegenüber Tieren, insbesondere gegenüber den Nutztieren, wird als normal und natürlich angesehen (Germov und Williams 2001). Weiter erschweren strukturelle Hindernisse die moralische Beachtung von Nutztieren (Rothgerber 2020). So ist die Nutztierhaltung meist versteckt, sodass es beispielsweise schwierig ist, ein Schwein in seiner Tierhaltung sehen zu dürfen. Diese Unsichtbarkeit bewirkt eine Verheimlichung, sobald die tatsächliche Tierhaltung in der Bildung und den öffentlichen Medien tabuisiert wird (Rothgerber 2020, S. 3). Fleischwerbung und Kinderbücher lassen Kinder und Erwachsene im Glauben an eine romantisierte Landwirtschaft, in der das Huhn unter dem Apfelbaum Würmer pickt und das Schwein im Schlammbad herumsuhlt. Diese Bilder entsprechen jedoch meist nicht der realen Fleischproduktion. Joy (in Piazza et al. 2015, S. 115) bezeichnet die Ideologie des Karnismus als Prämisse, aus welcher die Überzeugungen entstehen, Fleischessen als etwas Natürliches, Normales und Nötiges anzusehen.

2. Fleisch als Symbol in einem Signifikanzsystem

Bei der Untersuchung der symbolischen Bedeutung von Fleisch hilft das philosophische Konzept von Roland Barthes, ein Lebensmittel als ein mehrdeutiges Zeichen in einem gesellschaftlichen «Signifikanzsystem» zu verstehen (Counihan und van Esterik 1997). Ähnlich wie bei der semantischen Erforschung von Kommunikation und Sprache ist ein Lebensmittel als kulturell konstruiertes Objekt mit unterschiedlichen Funktionen zu versehen. Barthes ist der Ansicht, dass heutzutage die dem Lebensmittel inhärente Funktion der Ernährung der Menschen weniger eine Rolle spielt als das Zeichen oder eben die Symbolik für die es steht. Durch Werbung werden diese impliziten Zeichen manifest und ersichtlich. Barthes meint, dass Werbung viel eher die kollektive Psychologie der Menschen reflektiere, als dass sie sie forme (in Counihan und van Esterik 1997).

      a) Fleisch als Symbol von Macht, Stärke und Status

Speziell an der kulturellen Funktion des Lebensmittels Fleisch ist seine tierische Herkunft. Das Tier dient als Metapher, Individuen und soziale Gruppen als überlegen darzustellen (Russell 2012, S. 12). Fleisch als Produkt des Tiers dient als Symbol einer Reihe von Attributionen wie z.B. Macht, Status und Stärke. Diese Konnotationen binden prinzipiell an die Rolle der Tiere in unserer Weltanschauung, welche geprägt ist von der jeweiligen Kultur. In Gesellschaften, in denen die Herrschaft über die Natur als Wert vertreten wird, gelten Tiere als dem Menschen unterlegen (Fiddes 1991). Fleisch dient so als Symbol der Macht über die Tiere. Da Tiere früher als gefährlich galten, fühlt man sich durch ihre Beherrschung mächtig (Zaraska 2016). Die kulturellen Errungenschaften der Technik und der Wissenschaft dienen in der Nutztierhaltung als Machtinstrumente, um die Produktion von Fleisch bis ins letzte Detail zu kontrollieren. In der Überzeugung, dass die Maximierung des Ertrags ständiger natürlicher Bedrohungen (Bsp. Naturgewalten, Schädlinge, Krankheiten) ausgeliefert ist, symbolisiert die heutige konventionelle Tierhaltung einen Kampf zwischen Kultur und Natur (Fiddes 1991). Obwohl diese landwirtschaftliche Praxis und die zugrundeliegende Weltanschauung hinterfragt werden, bleibt Fleisch mit dem Symbol der menschlichen Macht über das Tier behaftet und dieses traditionelle Zeichen wird beispielsweise in den spanischen Tierkämpfen gesellschaftlich weiter verbreitet.

Fleisch dient auch als Symbol des Status. Fleisch war aufgrund seiner geringen Verfügbarkeit lange ein Luxusprodukt. Es war besonders erwünscht, aber besonders schwierig zu bekommen. Durch diese Tatsache wurde Fleisch als Luxusprodukt zu einem Statussymbol. Es zeigt an: Ich kann es mir leisten (Zaraska 2016). Die Verfügbarkeit von und der Zugang zu Fleisch haben sich in den letzten siebzig Jahren für die Schweizer Bevölkerung drastisch verbessert, sodass sich heute jede Person Fleisch leisten kann. Diese Tatsache wirft die Frage auf, wie Fleisch weiterhin als Statussymbol dienen soll? Einerseits könnte es zu einer Entwicklung führen, in der dem Fleisch andere Eigenschaften zugeschrieben werden, die diesen Status wiederherstellen z.B. in Schweizer Fleisch vs. Nicht-Schweizer Fleisch, bio vs. konventionell oder Fine Food vs. M-Budget. Andererseits könnte es auch darin resultieren, dass man gar kein Fleisch mehr isst, weil das Fleischessen seinen Reiz als Statussymbol verloren hat. Gewisse Individuen ermöglichen sich so als Vegetarierin oder Veganer einen anerkennenden Status, indem sie sich durch ihren Fleischverzicht moralisch überlegen fühlen.

Das Symbol der Stärke unterliegt dem Volksglauben, dass wir durch das Einverleiben eines tierischen Muskels die Stärke dieses Tieres erlangen. Im Sinne von: «Du bist, was Du isst», erhoffen wir tierische Eigenschaften zu übernehmen. Dieser Aberglaube wurde zum Beispiel in der besonders fleischreichen Kost von deutschen Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg propagiert (Adams 2013) und ist in zahlreichen Volkssagen tradiert.

     b) Fleisch und Maskulinität

Die Symbolfunktion von Macht, Status und Stärke beschreibt interessanterweise gleichzeitig Attribute, die jahrhundertelang der klassischen Männerrolle zugeschrieben wurden. Der Ursprung dieser Verbindung gründet darin, dass Jagen eine archetypische, männliche Beschäftigung ist. Zudem assen Männer in den letzten Jahrhunderten generell mehr Fleisch als Frauen. Der traditionelle Mann übernimmt sprichwörtlich weiterhin die Rolle des Jägers beispielsweise beim Grillieren, während die traditionelle Frau die Zutaten für die Beilagen sammelt und die Speisen serviert (Fiddes 1991, S. 157–159). Auch in der Schweiz essen bis heute Männer ca. 40% mehr Fleisch als Frauen (Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen 2017).

Neben der Verbindung zwischen Maskulinität und Fleischkonsum besteht auch eine Assoziation zwischen der Funktion von Fleisch und der männlichen Sexualität. Schon im viktorianischen Zeitalter war man der Ansicht, dass der Konsum von Fleisch die männliche Potenz steigern würde, sodass man Schuljungen Fleischenthaltsamkeit riet, um ihre Lust auf Masturbation zu verringern (Fiddes 1991, S. 147). Obwohl diese Wirkung wissenschaftlich widerlegt ist und dem Essen von Fleisch sogar eine potenzmindernde Wirkung diskutiert wird (Dieterle 2015), kultivieren Werbespots und Lifestyle Magazine weiterhin den Aberglauben zwischen männlicher Sexualität und Fleisch (Zaraska 2016). Ein Beispiel hierfür ist der 2015 erschienen Werbeclip fürs Grillieren von Coop.


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Abbildung 1: Fleischkonsum in der Schweiz nach Altersklassen von Frauen und Männern (Baur, Egeler, & von Rickenbach, Produktion und Konsum von Fleisch in der Schweiz, 2018) 

Fleisch scheint also ein männliches Lebensmittel zu sein, und je mehr ein Mann davon verzehrt, desto männlicher erscheint er (Sumpter 2015). Was passiert aber, wenn ein Mann gar kein Fleisch essen will, es aber von ihm erwartet wird? Williams untersuchte diesen Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Konzept der Normalisierungsmacht (Dieterle 2015). In Bezug auf Maskulinität beeinflusst die Normalisierungsmacht männliche Individuen in ihrem Fleischkonsum durch die Angst, als feminin oder homosexuell zu erscheinen. Die Angst, nicht «normal» zu sein, lässt das Individuum jede seiner Aktionen an die wahrgenommene soziale Norm anpassen. Diese Anpassung wirkt auch beim Fleischkonsum. Das soziale Konstrukt des starken, mächtigen und überlegenen Fleischessers konstituiert die Identität. Wollen Konsument:innen sich stark, mächtig und überlegen fühlen, essen sie Fleisch. Kritisieren Individuen das Fleischessen, so hinterfragen sie gleichzeitig dieses soziale Konstrukt und die damit verbundenen normativen Geschlechterrollen. Williams sieht in dieser Konnotation die besondere Schwierigkeit für Männer, auf eine vegane und vegetarische Ernährung umzusteigen und so authentische und individuelle Entscheidungen bezüglich ihrem Essverhalten zu fällen. Die Normalisierungsmacht hindert das Bewusstsein an der Anerkennung der wissenschaftlich begründeten Notwendigkeit, den Fleischkonsum zu reduzieren (Dieterle 2015).
 



Literaturverzeichnis

Baur, P.; Egeler, G.-A.; von Rickenbach, F. (2018): Produktion und Konsum von Fleisch in der Schweiz. Wädenswil. Online verfügbar unter https://novanimal.ch/wp-content/uploads/2019/04/2018_ZHAW_baur_fleisch_CH_NOVANIMAL.pdf

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (2017): Fachinformation Ernährung: Fleischkonsum in der Schweiz 2014/15. Online verfügbar unter  https://www.blv.admin.ch/dam/blv/de/dokumente/lebensmittel-und-ernaehrung/ernaehrung/fi-menuch-fleisch.pdf.

Counihan, Carole; van Esterik, Penny (Hg.) (1997): Food and culture. A reader. New York, NY: Routledge. Online verfügbar unter http://www.loc.gov/catdir/enhancements/fy0651/96046430-d.html.

Dieterle, Jill Marie (Hg.) (2015): Just food. Philosophy, justice, and food. London: Rowman & Littlefield International.

Fiddes, Nick (1991): Meat, a natural symbol. London: Routledge.

Germov, John; Williams, Lauren (Hg.) (2001): A sociology of food and nutrition. The social appetite. Repr. Oxford: Oxford Univ. Press.

Piazza, Jared; Ruby, Matthew B.; Loughnan, Steve; Luong, Mischel; Kulik, Juliana; Watkins, Hanne M.; Seigerman, Mirra (2015): Rationalizing meat consumption. The 4Ns. In: Appetite 91, S. 114–128. DOI: 10.1016/j.appet.2015.04.011.

Rothgerber, Hank (2020): Meat-related cognitive dissonance: A conceptual framework for understanding how meat eaters reduce negative arousal from eating animals. In: Appetite 146, S. 104511. DOI: 10.1016/j.appet.2019.104511.

Russell, Nerissa (2012): Social zooarchaeology. Humans and animals in prehistory. Cambridge, New York: Cambridge University Press. Online verfügbar unter http://site.ebrary.com/lib/alltitles/docDetail.action?docID=10520654.

Sumpter, Kristen C. (2015): Masculinity and Meat Consumption: An Analysis Through the Theoretical Lens of Hegemonic Masculinity and Alternative Masculinity Theories. In: Sociology Compass 9 (2), S. 104–114. DOI: 10.1111/soc4.12241.

Zaraska, Marta (2016): Meathooked. The history and science of our 2.5-million-year obsession with meat. New York: Basic Books a member of the Perseus Books Group. Online verfügbar unter http://www.meathookedthebook.com/.

Legende zu Abb 1:

 Abbildung 1: Fleischkonsum in der Schweiz nach Altersklassen von Frauen und Männern (Baur et al. 2018)